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OL-freie Ferien zum Zweiten: Incredible India

Für den Westen ist Indien ein Land der Götter und Mythen. Es lädt zum Träumen ein und verspricht Sehnsüchte zu erfüllen:

„Incredible India“, mit diesem Slogan wirbt Aamir Khan, ein bekannter Filmschauspieler, für den indischen Tourismus. Wie die Wirtschaft, so ist auch die Tourismusbranche im Aufstieg begriffen. Das Arbeitspotential ist unerschöpflich, Indien ist mit 1,2 Milliarden Einwohnern nach China das bevölkerungsreichste Land der Erde. Schon bald werden die Inder zahlreicher als ihre ungeliebten Nachbarn sein, denn ihr Bevölkerungswachstum wird noch nicht durch eine Ein-Kind-Politik gebremst und für viele indische Eltern sind Kinder die beste Möglichkeit der Altersvorsorge.

Das Durchschnittsalter der indischen Bevölkerung beträgt 26 Jahre! Hunderttausende Ingenieure und Ärzte schliessen jedes Jahr die Hochschule ab und bereits sind 40% der Unternehmen im Silicon Valley (USA), Mekka der IT-Industrie, in indischer Hand. Viele grosse Firmen lagern ihre Kundenzentren nach Indien aus, wo junge Inderinnen und Inder in geschliffenem Englisch (oder Deutsch) ihren Kunden Auskunft geben, ohne dass diese den leisesten Verdacht schöpfen würden, dass ihr Berater mit dutzenden Kollegen in einem Grossraumbüro in Mumbai, Delhi oder Bangalore sitzt. Diese Stellen sind gut bezahlt und äusserst beliebt bei der aufstrebenden Jugend, auch wenn nur wenige die strengen Nachtschichten längere Zeit aushalten. Aufgrund wirtschaftlicher und demografischer Trends wird das 21.Jahrhundert bereits als „das asiatische Jahrhundert“ bezeichnet.

Ein Dorf im Bundesstaat Bihar. Eine magere Kuh weidet vor einer einfachen Hütte, in denen noch magerere Menschen leben, eine Grossfamilie. Nachdem der Monsun im letzten Jahr ein Totalausfall war, verdorren die Felder nun in der Sonne. Um durchzukommen musste der Vater auch seinen jüngsten Sohn, die grosse Hoffnung, von der Schule nehmen. Er verdient jetzt ein paar Rupien im nahegelegenen Teeladen. Die Alphabetisierungsquote liegt weit unter 50%. Weltrekordverdächtig ist der Grad an Korruption. Der Lehrer sackt das staatliche Geld für die Schuluniformen und -bücher selber ein. Niemand macht ihm einen Vorwurf, schliesslich würde an seiner Stelle jeder dasselbe tun. Die Landlords, Grossgrundbesitzer, saugen die Bevölkerung aus wie malariaverseuchte Moskitos. Zurück bleiben dürre, zahnlose, an Tuberkulose krepierende Gestalten. Das nächstgelegene Spital ist nur über eine holprige Landstrasse erreichbar. Es ist völlig verdreckt, ohne Personal und es kann Tage dauern, bis sich ein Arzt blicken lässt, wenn überhaupt. Die einstige Hoffnung der Landbevölkerung, Laloo „der grosse Sozialist“ ist mittlerweile ein hohes Tier in Delhi...

Erfolgs- wie auch Horrorgeschichten dringen aus Indien zu uns. Diesen Sommer hatte ich die Gelegenheit den Subkontinenten kennenzulernen.
Vor genau 15 Jahren begann Father Francis, ein Pater in Mumbai, Strassenkinder und Lumpensammler in seine kleine Wohnung aufzunehmen. Im Verlauf der Zeit schuf er eine Institution, die heute aus mehreren Heimen besteht und zum 15-Jahr Jubiläum ein grosses Fest feierte. Während zwei Monaten lebte ich im „Mermier Bal Ashram“, dem Zentrum dieser Organisation. Dabei stand es mir offen, wann und wo ich mitarbeiten wollte.
Um mich an das Leben in Neu-Mumbai zu gewöhnen brauchte ich eine Weile. Ich war überfordert mit den fremden Umgangsformen. Viele Inder sprechen hervorragend Englisch, doch wegen des ungewohnten Akzents verstand ich zu Beginn nur wenig. Das änderte sich glücklicherweise mit der Zeit: Nach einigen Wochen tönte der indische Singsang viel angenehmer in meinen Ohren, als das überdrehte britische Englisch. Die Vielsprachigkeit Indiens ist äusserst beeindruckend. Vier- oder gar Fünfsprachigkeit sind keine Seltenheit, sofern jemand die Schule besuchen konnte, und beim Gebrauch wird fliessend gewechselt. Indien kennt keine einheitliche Landessprache. Neben Hindi und Englisch gibt es 17 gleichberechtigte Amtssprachen sowie Hunderte Dialekte
Erlesene Gewürze und zuckersüsse Früchte, Currys und Chutneys, Fladenbrote und Reisküchlein. Das Essen in Indien ist unendlich vielfältig. Für „Thali“, die einfachste Speise in indischen Restaurants, zahlt man 50 Rupien, also gut 1 Franken. Man erhält einen grossen Eisenteller mit Vertiefungen für 4 oder 5 Gerichte, dazu wird Brot und Reis gereicht. Da häufig nachgeschöpft wird, verlässt auch der grösste Vielfrass das Lokal gesättigt. In Indien sollte man nicht aufessen, sondern von jedem Gericht etwas übriglassen. Gegessen wird mit der rechten Hand, die linke versteckt man am besten.
Ein grandioses Spektakel ist der Verkehr. Grundsätzlich wird links gefahren, doch diese Regel ist nicht zwingend. Ansonsten gilt das Recht des Stärkeren. Lastwagen, Autos, Motorräder und Rikschas verkeilen sich ineinander, die Hupe wird exzessiv betätigt und doch wirkt das ganze entspannt. Mittendrin hält eine Kuh Mittagsschlaf. Der Rikschafahrer, der im letzten Moment das Steuer herumgerissen hat, um nicht von einem dieser bunten, etwas lottrigen Tata-Lastwagen zermalmt zu werden, verzieht keine Miene.
Im Jahresverlauf feiern die Inder eine unüberschaubare Zahl an Festen. Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen den Religionen. Indische Feste sind farbig und laut. Bollywoodmusik dröhnt infernalisch aus den Lautsprechern. Zum Govinda-Fest für den Hindugott Krishna hängen Politiker und andere Scharlatane mit Milch, Honig und Früchten gefüllte Töpfe über die Strassen von Mumbai. Gruppen junger Männer bilden Menschenpyramiden und versuchen die Töpfe zu erreichen und damit hohe Geldpreise zu gewinnen. Der Rekord liegt bei neun menschlichen Stockwerken. Die Spitäler der Stadt halten genügend Plätze für die abgestürzten „Govindas“ frei.
Ganz Indien liegt in derselben Zeitzone, genannt „IST“ für Indian Stretchable Time, nicht Indian Standard Time, wie häufig fälschlicherweise angenommen wird. Man sollte Zeitangaben generell nicht wörtlich nehmen, häufig ist man mehrere Stunden verspätet, doch ausgerechnet dann, wenn man denkt: „Pressiert ja nicht so“, sind alle anderen pünktlich. Die westliche Organisationswut wird mit einem Schmunzeln kommentiert. Die Freizeit hingegen nimmt viel weniger Platz ein als in unseren Breitengraden.

Die Distanzen, welche Inder zurücklegen, sind gewaltig. Will ein älteres Ehepaar aus dem Süden ihren Sohn in der Hauptstadt Delhi besuchen, so sitzt es 2 volle Tage im Zug und legt Tausende Kilometer zurück. Indien erstreckt sich von den Gebirgszügen des Himalajas im Norden bis zu den tropischen Wäldern Keralas im Süden. Die Mannigfaltigkeit der Landschaft reicht von den kargen Wüsten Rajasthans, über das Schwemmland entlang des Ganges, zu den paradiesischen Stränden Goas. Über die Hälfte aller Tier- und Pflanzenarten können in Indien angetroffen werden. Als Nationaltiere gelten der Pfau und der Tiger, wobei letzterer stark bedroht ist
Der Lebensspender Indiens ist der Monsun. Fällt er auf die ausgetrockneten Felder, so verwandelt sich Ödland in üppiges Grün. Im Juli und August bestimmt er den Tag. Die Luftfeuchtigkeit liegt dann nahe bei 100%. Bei Platzregen huschen alle Fussgänger unter das nächste Vordach und harren dichtgedrängt auf ein Nachlassen. In den Pfützen auf der Strasse leben kleine Krebse.

Mit dem Ende des Monsuns verliess ich Indien, dass ich zurückkehren werde ist beschlossene Sache.

 

Simon Egli

Literatur:
"An den inneren Ufern Indiens: Eine Reise entlang des Ganges": Ilija Trojanow. Piper Verlag.

"Weltmacht Indien: Die neue Herausforderung des Westens": Olaf Ihlau. Pantheon Verlag.

"The White Tiger": Aravind Adiga. Free Press.

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